Es ist fast genau 130 Jahre her, dass Wilhelm Conrad Röntgen etwas entdeckt hat, was er gar nicht gesucht hatte: die Röntgenstrahlung. Er machte wenige Wochen später das erste Röntgenbild der Menschheitsgeschichte – zu sehen sind die Knochen der Hand seiner Frau Anna Bertha samt Ehering. 1901 erhielt er für seine Entdeckung den ersten Nobelpreis für Physik.
Seine Röntgenstrahlung ermöglicht nicht nur, dass Ärzte Knochenbrüche sehen und Gepäck an Flughäfen durchleuchtet wird. Röntgenstrahlen sind auch ein perfektes Werkzeug, um die Sehnsucht zu stillen, die Goethes Faust umtreibt, nämlich „dass ich erkenne, was die Welt im Innersten zusammenhält“.
Die atomare Ebene sichtbar machen
„Röntgenstrahlen sind ideal, um zu verstehen, was auf molekularer und atomarer Ebene passiert“, sagt Dr. Peter Walter, Abteilungsleiter am Institut für nachhaltige Wasserstoffwirtschaft (INW) in Jülich, wo er ein Röntgenlabor für den Institutsbereich INW-1 „Katalytische Grenzflächen“ aufbaut. Das INW-1 unter der Leitung von Prof. Hans-Georg Steinrück erforscht, was an diesen Grenzflächen passiert. „Röntgenstrahlen haben genau die richtige Wellenlänge, um zu zeigen, ob sich auf molekularer und atomarer Ebene etwas verändert hat. Und sie zerstören die Strukturen nicht, die wir mit ihnen beleuchten“, beschreibt Peter Walter.
„Röntgenstrahlen sind ideal, um zu verstehen, was auf molekularer und atomarer Ebene passiert“.
Dr. Peter Walter, Abteilungsleiter am Institut für nachhaltige Wasserstoffwirtschaft (INW-1), Forschungszentrum Jülich
Heiratsvermittler und Scheidungsanwälte
Auf der katalytischen Grenzfläche passiert die „Magie“ der sogenannten heterogenen Katalyse. Heterogen bedeutet, dass der Katalysator als abtrennbarer und damit wiederverwertbarer Festkörper vorliegt, die Reaktanden wie beispielsweise Wasserstoff (H₂) und Stickstoff (N₂) sind gasförmig. Die Grenzfläche ist die Kontaktzone zwischen Katalysatoren und reagierenden Stoffen. Dort docken Moleküle an, deren Bindungen damit gelockert oder neu angeordnet werden, sodass Reaktionen schneller oder bei geringerer Temperatur ablaufen.
Das ist wichtig, um das schwer speicherbare Gas Wasserstoff handhabbarer zu machen, z. B. durch Reaktion mit Stickstoff zu Ammoniak (NH₃). Wasserstoff in seiner natürlichen Form hat ein sehr großes Volumen. Die gleiche Menge Wasserstoff als Ammoniak gespeichert hat ein 1.300- bis 1.500-mal geringeres Volumen. Um Stickstoff und Wasserstoff zu verheiraten, ist ein metallischer Katalysator notwendig. Prof. Regina Palkovits, die in Jülich den Institutsbereich INW-2 „Katalysatormaterialien“ leitet, nennt Katalysatoren „Heiratsvermittler und Scheidungsanwälte der Moleküle“.
Das, was während dieser „Magie“ zwischen den Molekülen des Wasserstoffs, Stickstoffs und des Katalysators passiert, will das INW-1 besser verstehen. Dort fragt man sich z. B., wie die Reaktion beschleunigt oder intensiviert werden kann – oder gebremst, weil die Intensität zu hoch ist. „Warum verliert ein Katalysator seine Aktivität und was können wir dagegen tun?“, beschreibt Dr. Jimun Yoo, Teamleiter am INW-1, eine der Fragen. Liegt der Reaktand auf der Grenzfläche und blockiert er so mehr Bindungsplätze, als wenn er stünde, stellt sich die Frage, wie sich dies ändern ließe.
Röntgenstrahlen, deren Wellenlänge so hoch ist wie ein Wasserstoffatom groß, zeigen, ob sich die Position des Atoms geändert hat. Denn dann hat sich der Reflexionswinkel der Strahlen verändert. Eine sogenannte Beamline kann das messen. Ein solches Labor entsteht in den kommenden Jahren in Jülich.
„Wir müssen kleinste Veränderungen sehen“, sagt Jimun Yoo. Künftig auch im eigenen Röntgenlabor, derzeit an Synchrotronanlagen in Hamburg oder Grenoble. Ein Synchrotron, ein Teilchenbeschleuniger mit extrem heller Lichtquelle, liefert viele Photonen für hochaufgelöste Momentaufnahmen der katalytischen Grenzfläche. Photonen sind die masselosen Bauteile des Lichts, in denen Energie gespeichert ist. Arbeitszeit an einem Synchrotron ist für freie Forschung kostenfrei, aber nicht unbeschränkt verfügbar. „Es ist für uns perfekt geeignet, weil es uns ermöglicht, eine hochaufgelöste Momentaufnahme von der katalytischen Grenzfläche zu machen“, erklärt Jimun Yoo.
Das Bild zusammensetzen
Die Synchrotronzeit muss gut vorbereitet werden. Dabei hilft in Zukunft das im Aufbau befindliche Röntgenlabor. „Wir brauchen bei uns mehr Zeit für ein Bild, weil unsere Quelle weniger Photonen verschießt als das Synchrotron. Das versetzt uns in die Lage, Langzeituntersuchungen zu machen, mit denen wir besser verstehen, wie wir Katalysatoren langlebiger machen können“, sagt Jimun Yoo. Wichtig sind beide Zeitskalen: Langzeitbeobachtung und Momentaufnahme. „Das ganze Bild ergibt sich nie mit nur einem Experiment, sondern erst, wenn wir die Ergebnisse zusammenbringen.“
Bis zur Fertigstellung der Beamline in Jülich dauert es noch. „Wenn sie eingerichtet ist, haben wir Möglichkeiten, die es außerhalb von Großforschungsanlagen wie einem Synchrotron nur sehr selten gibt“, ordnet Peter Walter ein. Im Forschungszentrum bereits in Betrieb ist ein multifunktionales Röntgendiffraktometer. Das ist sozusagen das Schweizer Taschenmesser unter den Forschungsröntgengeräten. Es ermöglicht viele Messmethoden, ist aber nicht so hochauflösend wie ein Synchrotron. Letzteres schießt in 0,4 Sekunden genauso viele Photonen auf das Ziel wie ein Röntgendiffraktometer in 20 Minuten. Der Effekt: Statt der Detailaufnahme ermöglicht es Rückschlüsse auf Veränderungen im Verlauf der Reaktion. „So gewinnen wir wertvolle Daten zur Reaktion auf der Grenzfläche. Das bringt uns schon heute ein großes Stück voran“, sagt Hans-Georg Steinrück.
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