Glas: Blaupause für die Industrie der Zukunft
Wenn es gelingt, die Kohlenstoffdioxid (CO2)-Emissionen der Glasindustrie drastisch zu reduzieren, dann klappt das überall anders auch. Das klingt nach einer steilen These. Völlig abwegig ist sie allerdings nicht. „Die Lerneffekte, die wir in unserem Projekt haben, sind auf viele andere Industrien anwendbar. Und Wasserstoff spielt dabei eine wichtige Rolle“, sagt Hendrik Schricker vom Lehrstuhl für Technische Thermodynamik (LTT) der RWTH Aachen.
Der LTT ist eines von drei RWTH-Einrichtungen, die im Förderprojekt COSIMa mit dem Glashersteller Saint-Gobain zusammenarbeiten, um den CO2-Ausstoß in der Glasproduktion drastisch zu reduzieren. COSIMa steht für: CO2-neutraler Saint-Gobain Industriestandort Herzogenrath – Machbarkeitsuntersuchung. Es ist ein Förderprojekt des progres.nrw. Die weiteren beteiligten RWTH-Institute sind das Institut für Industrieofenbau und Wärmetechnik (IOB) und das Institute for Power Generation and Storage Systems (PGS). Zudem ist das Gas- und Wärme-Institut Essen e. V. (GWI) an dem Projekt beteiligt, das 2025 endet.
„Wir können Ergebnisse liefern, die als Vorlage für verschiedene Standorte von Glasherstellern verwendet werden können“, erklärt Daniel Jost, einer der beteiligten Wissenschaftler. Liefern können sie eine Machbarkeitsstudie für Saint-Gobain, die dem Glasproduzenten eine Möglichkeit an die Hand gibt, eine Rechnung mit vielen Variablen zu lösen. Nämlich die, wie ein Standort der Glasproduktion am besten klimafreundlich für die Zukunft umgerüstet wird.
Für andere Industrien lernen
Der Glassektor steht dabei auf dem Weg zur Klimaneutralität vor so gut wie allen Herausforderungen, denen sich weite Teile der Industrie gegenübersehen. Die Glasindustrie benötigt enorm hohe Temperaturen – um die 1.600 Grad Celsius – für den wichtigsten Prozessschritt, die Glasschmelze.
Das passiert bisher mit dem Verbrennen von Erdgas. Dabei wird klimaschädliches CO2 frei. Die Emissionen sind mit dem technischen Fortschritt schon deutlich zurückgegangen. Von früher mal mehr als einer Tonne emittiertem CO2 pro Tonne produzierten Glas hin zu einer halben Tonne an klimaschädlichem CO2.
Laut dem Bundesverband Glasindustrie bedeutet das aktuell bei 7,4 Millionen Tonnen produziertem Glas in Deutschland pro Jahr Emissionen von 3,9 Millionen Tonnen. Das sind rund 0,65 Prozent der CO2-Emissionen, die das Statistische Bundesamt für das Jahr 2023 für Deutschland gemeldet hat. „Es gibt größere Emittenten, beispielsweise die Stahlindustrie. Aber wenn wir ganzheitlich dekarbonisieren wollen, müssen wir jeden Industriezweig betrachten“, ergänzt Hendrik Schricker.
Das Besondere am Glas seien darüber hinaus auch die Erfahrungen, die auf andere Bereiche zutreffen. „Der Schmelzprozess ist sehr energieintensiv und die Ursache für rund 80 Prozent der Emissionen“, erklärt Daniel Jost. Ebenfalls berücksichtigt werden müssen die Emissionen, die bei der Schmelze aus dem Material freigesetzt werden. Glas besteht neben Sand aus verschiedenen Carbonaten wie beispielsweise Natriumcarbonat (Na2CO3) oder Kalziumcarbonat (CaCO3). Und sie setzen im Schmelzprozess CO2 frei. Hier müssen Lösungen her, um die Emissionen aufzufangen.
Zweimal grün: Wasserstoff und Strom
Der Großteil des CO2 kann eingespart werden, indem Erdgas ersetzt wird. Hier gibt es zwei Ansätze, die aus Sicht von Daniel Jost und Hendrik Schricker beide gleichzeitig zum Einsatz kommen können. „Wir können das Erdgas mit Wasserstoff ersetzen. Wasserstoff verbrennt bei einem ähnlichen oder höheren Temperaturniveau. Die Produktion müsste dafür umgerüstet werden. Das ist machbar“, sagt Daniel Jost. In der Theorie. In der Praxis ist grüner Wasserstoff aufgrund der Prozesskosten teurer als Erdgas. Deswegen sei es denkbar, in Zukunft einen großen Teil der für den Schmelzprozess notwendigen Energie aus Strom zu nehmen. Ein komplett elektrischer Schmelzprozess sei aber technisch schwer umsetzbar.
Die großen Schmelzwannen der Zukunft sollten also beides können: elektrisch und Wasserstoff. Das Ziel ist, die Schmelzwanne so weit wie möglich elektrisch zu betreiben. Weil diese einen kontinuierlich hohen Energiebedarf hat, gewinnen Batterien und Verträge zur garantierten Abnahme von erneuerbaren Energien als Puffer an Bedeutung. Zu untersuchen ist dann, ob genügend lokal gewonnener grüner Strom für den energieintensiven Schmelzprozess zur Verfügung steht. Zusätzlich wird deswegen der Bezug von Wasserstoff über eine Pipeline als Alternative zu einer lokalen Erzeugung von Wasserstoff untersucht. So kann der Glasproduzent die Versorgungssicherheit mit einem Mix aus Strom und Wasserstoff erhöhen.
Das COSIMa-Team hat nicht nur die technischen Möglichkeiten der Zukunft im Blick. „Wir denken technoökonomisch“, verdeutlicht Hendrik Schricker, dass auch die Variablen der Preisentwicklungen auf dem Energiemarkt mitberechnet werden. Auch hier hat die Glasindustrie eine typische Eigenschaft, die andere energieintensive Bereiche ebenfalls betrifft: Sie verfügt über teure Geräte, die möglichst lange im Einsatz sein sollten. In der Stahlindustrie sind das die Hochöfen und beim Glas die Schmelzwannen.
„Solche Schmelzwannen sind in der Regel 20 Jahre in Betrieb. Der Austausch ist teuer und dauert lange“, sagt Daniel Jost. Ein Investment also, bei dem zum Zeitpunkt des Austauschs gut überlegt sein will, wie die neue Anlage mit Blick auf das Energiesystem der Zukunft ausgelegt wird. „Wir versuchen, mit einzubeziehen, wie sich die Energiepreise während der Lebensdauer der Schmelzwanne entwickeln könnten“, sagt Hendrik Schricker. Einfaches Beispiel: Heute ist Erdgas als Brenngas noch deutlich günstiger als grüner Wasserstoff. Ob das über die gesamte Lebensdauer unter Berücksichtigung der CO2-Kosten hinweg der Fall ist, ist fraglich.
2025 ist das COSIMa-Energieoptimierungsmodell fertig, das dabei helfen kann, die Glasindustrie zu einem Teil der grünen Zukunft zu machen.