In Zukunft werden wir viele verteilte Energiesysteme nutzen, um unseren Bedarf zu decken. Dabei wird es unumgänglich sein, alle Sektoren optimal miteinander zu koppeln. Wie das am effizientesten funktioniert, erproben Fachleute aus Jülich in der Praxis. Dazu verwandeln sie den eigenen Campus des Forschungszentrums Jülich in ein Reallabor. Wasserstoff ist dabei eine wichtige Säule, die dazu beiträgt, das Energiesystem der Zukunft zu tragen. Im Jülicher Reallabor – irgendwann auch weltweit.
„Auch in Zeiten knapper und teurer Energie muss man morgens im Winter nicht in einem kalten Büro sitzen“, sagt der Physiker Dr. Stefan Kasselmann. „Wenn man zukünftig nach Jülich zur Arbeit kommt, dann ist die Heizung bereits angelaufen und das Zimmer behaglich warm – und das mit weniger Energieverbrauch.“ Dies wird in einzelnen Gebäuden bereits getestet und funktioniert, weil die Energie bedarfsgerecht genutzt wird. Der Schlüssel zur Effizienz: eine intelligente Vernetzung und weitestgehend automatisierte Steuerung. „Genau das erproben wir derzeit im Realbetrieb auf dem Jülicher Campus“, sagt Stefan Kasselmann, Leiter des Fachbereichs Intelligent Campus am Forschungszentrum Jülich.
Das Team greift neue Erkenntnisse aus den Bereichen Energie, Digitalisierung und Mobilität auf und implementiert diese bei Eignung in die Infrastruktur des Forschungszentrums. Eines der großen Themen des Intelligent Campus-Teams ist das Vorhaben Living Lab Energy Campus (LLEC). Ziel des LLEC ist die Untersuchung hochgradig gekoppelter, intelligenter Energiesysteme im Hinblick auf Machbarkeit, Nachhaltigkeit und Benutzerkomfort, welche zudem durch entsprechende Skalierung auch wirtschaftlich betreibbar sind.
Wie eine Kleinstadt
Wasserstoff spielt hierbei eine große Rolle, etwa als chemischer Energiespeicher, wenn es um Anwendungsbereiche geht, bei denen eine Elektrifizierung nicht technisch umsetzbar oder wirtschaftlich darstellbar scheint. „Wir wollen unter anwendungsnahen Bedingungen im LLEC erproben, wie Energie zukünftig innerhalb eines Stadtteils oder einer kleinen Siedlung effizient verteilt und genutzt werden kann. Am Standort Jülich arbeiten rund 7.000 Menschen, durchaus mit einer Kleinstadt vergleichbar. Es gibt hier Büros, Labore, verschiedene Nutzungsarten. Dadurch können wir unterschiedliche Szenarien im realen Umfeld nachstellen: vom Industriegebiet bis hin zur Wohngegend.“
Im Moment ist die Energieversorgung in Deutschland teilweise noch geprägt von Großkraftwerken, die fossile Energieträger wie Kohle, Erdöl und Erdgas verfeuern, um Strom und Wärme zu gewinnen. Aber Wind- und Solarstrom sind eindeutig auf dem Vormarsch. Im vergangenen Jahr war erstmals mehr als die Hälfte des in Deutschland produzierten Stroms grün. In Zukunft wird grüner Strom das Energienetz dominieren. Das bedeutet viele kleine, dezentrale Erzeuger. „Man spricht hier auch von Sektorenkopplung. Ein gutes Beispiel dafür ist das Niedertemperaturnetz auf dem Campus, das in diesem Jahr sukzessive in Betrieb genommen wird. Es zeigt auch, wie bisher nicht berücksichtigte Quellen eingebunden werden können, sodass so wenig Energie wie möglich ungenutzt bleibt“, erklärt Stefan Kasselmann.
Ein weiteres großes Projekt für das Intelligent Campus-Team entsteht mit dem neuen Supercomputer-System JUPITER (Joint Undertaking Pioneer for Innovative and Transformative Exascale Research), der gerade installiert wird und 2025 den Regelbetrieb aufnehmen soll. JUPITER wird der erste sogenannte Exascale-Rechner in Europa sein, der eine Trillion Rechenoperationen pro Sekunde schafft. Das ist eine Zahl mit 18 Nullen. Den Forschern des Jülich Supercomputing Centers (JSC) ist es wichtig, dass das System nicht nur schnell, sondern auch energieeffizient ist. Ein erstes Modul des Rechners, das seit dem Frühjahr läuft, belegt den ersten Platz auf der Liste der energieeffizientesten Supercomputer der Welt. „Zusammen mit anderen Bereichen arbeiten wir im Projekt ExaHeat daran, die Abwärme des Systems im Multi-Megawatt-Bereich schrittweise in das Wärmenetz des Campus zu integrieren. Bis 2027 wollen wir die dafür notwendige Abwärmezentrale errichtet haben“, sagt Stefan Kasselmann.
Heizen mit Abwärme
Das Niedertemperaturnetz versorgt ab nächstem Jahr das JSC und acht umliegende Gebäude mit Heizwärme. Die Heizenergie stammt aus der Kühlung des Großrechners JUWELS (Jülich Wizard for European Leadership Science), dem aktuell noch schnellsten Jülicher Rechner. Wenn auf seinen Prozessoren hochkomplexe Simulationen ablaufen, gibt die Elektronik jede Menge Abwärme an das Kühlwasser ab. Die nun warme Flüssigkeit wird anschließend in das Niedertemperaturnetzwerk auf dem Campus geleitet und verteilt.
„Das Wasser hat eine Temperatur von knapp 40 Grad Celsius“, erklärt Dr.-Ing. André Xhonneux vom Institute of Climate and Energy Systems (ICE-1, Energiesystemtechnik), im LLEC verantwortlich für das Team Software und Simulation. Mit dem gerade mal handwarmen Wasser lässt sich zwar der energieeffiziente Neubau ohne Probleme versorgen. Aber für die Heizungssysteme von älteren Gebäuden ist es zu kalt: „Ältere Gebäude benötigen bis zu 85 Grad Celsius heißes Wasser, um alle Räume ausreichend zu heizen. Deshalb bringen wir das Wasser mithilfe von Wärmepumpen auf diese Temperatur“, sagt der Maschinenbauingenieur André Xhonneux.
„So können wir auch die alten Heizungssysteme der Gebäude zunächst weiterverwenden.“ Das ist besonders wichtig, um die am LLEC gewonnenen Erkenntnisse auf städtische Quartiere übertragen zu können. Die Abwärme könnte dort von Firmen und Betrieben stammen: „Hier in der Region zum Beispiel kommt dafür die Zuckerfabrik in Jülich infrage. Darüber hinaus gibt es aber noch zig ungenutzte Quellen, die sich über das deutsche Wärmekataster ermitteln lassen.“
„Wir haben auf dem Campus technologisch sehr verschiedene Photovoltaik-Anlagen installiert. Mit ihnen erzeugen wir eine Spitzenleistung von etwa 1,5 Megawatt. Diese Erzeugungsanlagen werden die Dynamik des gesamten, virtuellen Energiesystems des LLEC und damit die Fahrweise aller anderen LLEC-Demonstratoren bestimmen und leisten nebenbei einen Beitrag zur nachhaltigen Energieversorgung des Campus“, sagt Stefan Kasselmann.
Neuartige Photovoltaik-Leichtbausysteme
Ein Teil der Solarmodule steht auf einer Freifläche, der Rest verteilt sich auf verschiedene Gebäude auf dem Campus. „Bei Neubauten lassen sich die Anlagen einfach integrieren“, erläutert Dr. Andreas Gerber vom Institute of Energy Materials and Devices (IMD-3 Photovoltaik), LLEC-Teammanager für den Bereich Photovoltaik. „Entweder auf dem Dach, als halbtransparente Module in den Oberlichtern oder in der Fassade. Aber natürlich möchten wir auch weiterhin Bestandsgebäude damit ausstatten.“
Im Forschungszentrum Jülich hat sich das als Herausforderung erwiesen, da viele Dächer bereits Infrastruktur für die darunterliegenden Labore tragen: Klimaanlagen und Luftreinigungsanlagen etwa. Das verkleinert zusammenhängende Flächen und sorgt für Verschattung. Andere Dächer wurden auf eine so hohe Traglast nicht ausgelegt. In einem urbanen Gebiet könne das aber schon ganz anders aussehen: „Dort gibt es zwar meistens keine großen Freiflächen. Aber man kann zum Beispiel wunderbar die Überdachung eines Parkplatzes oder verstärkt die Dächer von Einkaufszentren und Industrieanlagen nutzen. Geprüft werden daher auch für unseren Campus neuartige Photovoltaik-Leichtbausysteme“, erklärt Andreas Gerber.
Schülerlabor als Vorreiter
Ein Gebäude, das am Campus in Jülich bereits umgerüstet wurde, ist das Schülerlabor JuLab. Seine Dachterrasse trägt eine Photovoltaik-Pergola aus halbtransparenten Modulen und eine Photovoltaik-Dachanlage. Und gleich nebenan dreht sich der Rotor einer kleinen Windenergieanlage. „Hier haben wir ein LLEC im Kleinen aufgebaut. Da können Komponenten des Systems vorab erprobt werden, bevor die Technologien in einem größeren Maßstab auf dem Campus eingesetzt werden“, erklärt Stefan Kasselmann. So sind die Konferenzräume mit speziellen Sensoren ausgerüstet: Sie erkennen zum Beispiel, wie viele Menschen sich in dem Zimmer aufhalten. „Allein durch die Körperwärme heizt sich ein Raum langsam auf“, sagt Stefan Kasselmann, „entsprechend wird automatisch die Heizung heruntergeregelt. Das spart Heizenergie, ohne dass es bemerkt wird.“
Die Sensoren messen nicht nur die Temperatur der Zimmer und der Heizung, sondern auch Daten wie die Kohlenstoffdioxid-Konzentration, die Luftfeuchtigkeit, die Helligkeit und den Öffnungszustand der Türen und Fenster – nicht nur im JuLab, sondern auch in vielen weiteren Räumen des LLEC. Auch Informationen zum Wetter fließen ein. Verarbeitet werden die Daten vom „Gehirn“ des LLEC. Die cloudbasierte Informations- und Kommunikationsplattform (IKT) mit ihrer Regelungssoftware sorgt für die richtige Balance der Energieströme zwischen den Knoten des Netzes.
Ein einmaliger Demonstrator
Sonne und Wind liefern nicht immer gleich viel Energie. „Wird mehr Strom erzeugt als benötigt, müssen wir diesen speichern – quasi für schlechte Zeiten. Dafür bauen wir im LLEC verschiedene Speichermöglichkeiten auf“, erläutert Stefan Kasselmann. „Wir können Energie in zwei Großbatterien speichern oder auch Wasserstoff in chemisch gebundener Form. Mit dem Wasserstoff-Speichersystem lassen sich Dunkelflauten von Tagen oder sogar Wochen überbrücken.“
Der Wasserstoff wird mithilfe von Elektrolysezellen aus Wasser gewonnen. Danach kann er gespeichert werden. Im Rahmen des LLEC-Vorhabens passiert das, indem die Wasserstoff-Moleküle unter Wärmeabgabe chemisch an eine Trägerflüssigkeit gebunden werden. Die Abwärme aus der Hydrierung wird über die Energiezentrale im Forschungszentrum genutzt und so kann die Wärmeproduktion der Energiezentrale reduziert werden. Bei der Trägerflüssigkeit handelt es sich um sogenannte flüssige organische Wasserstoffträger (Liquid Organic Hydrogen Carrier (LOHC). In Jülich entsteht dafür im Moment ein weltweit einmaliger Demonstrator.
Das Unternehmen Hydrogenious LOHC Technologies GmbH, das auch Partner im Demonstrationsvorhaben Multi-SOFC am Krankenhaus Erkelenz ist, hat den dafür notwendigen Reaktor hergestellt. Gerade wird er auf dem Jülicher Campus installiert. Ebenfalls in Planung befindet sich eine Pipeline, die den hergestellten Sauerstoff und Wasserstoff vom Elektrolyseur zur Energiezentrale transportiert. Im kommenden Jahr soll das gesamte System in Betrieb genommen werden.
Die neue Infrastruktur soll in Zukunft dafür sorgen, dass der mithilfe von Überschussstrom hergestellte Wasserstoff haltbar gemacht wird, damit er dann in Strom umgewandelt wird, wenn zu wenig Sonne scheint und zu wenig Wind weht. Aus der Trägerflüssigkeit LOHC kann der Wasserstoff bei Bedarf durch Wärme aus der Energiezentrale wieder freigesetzt werden. Gleich dem Pfandflaschen-Prinzip, kann die Flüssigkeit anschließend wiederverwendet werden. Laut einer Studie des Forschungszentrums Jülich ist der Be- und Entladezyklus mehr als 200-mal möglich.
Zentrale Rolle für die Sektorenkopplung
Mit einer Brennstoffzelle lässt sich der Wasserstoff auch rückverstromen. „Aber wir könnten ihn auch verbrennen – und so einen Teil des Erdgases ersetzen, mit dem die auf dem Campus errichtete Energiezentrale Strom, Wärme und Kälte erzeugen soll. Dem Wasserstoff kommt daher eine ganz zentrale Rolle für die Sektorenkopplung zu“, sagt Dr. Holger Janßen, Gruppenleiter Stacks und Systeme (Elektrolyse) im Institute of Energy Technologies (IET-4 Elektronische Verfahrenstechnik). Welche Rolle das bei welcher Anwendung sein wird und wie sich Wasserstoff und Batteriespeicher beispielsweise sinnvoll ergänzen – das erforscht das Forschungszentrum Jülich quasi im Selbstversuch mit dem LLEC. „Das ist eben der Vorteil eines Reallabors: Wir identifizieren neue Herausforderungen im Zusammenspiel von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft, auf die wir ohne direkten Bezug zur Praxis eher nicht gekommen wären“, sagt Stefan Kasselmann.
Die Sensoren messen nicht nur die Temperatur der Zimmer und der Heizung, sondern auch Daten wie die Kohlenstoffdioxid-Konzentration, die Luftfeuchtigkeit, die Helligkeit und den Öffnungszustand der Türen und Fenster – nicht nur im JuLab, sondern auch in vielen weiteren Räumen des LLEC. Auch Informationen zum Wetter fließen ein. Verarbeitet werden die Daten vom „Gehirn“ des LLEC. Die cloudbasierte Informations- und Kommunikationsplattform (IKT) mit ihrer Regelungssoftware sorgt für die richtige Balance der Energieströme zwischen den Knoten des Netzes.